
Perotin: Organum „Viderunt omnes“, Graduale zu Weihnachten 1198

Perotin, auch als „Magister Perotinus“ oder „Perotinus magnus“ bekannt,
geboren zwischen 1150 und 1165,
gestorben zwischen 1200 und 1225,
war Magister an der Klosterkirche und Kathedrale Notre Dame in Paris.
Perotins «Viderunt omnes» ist ein erstes Zeugnis einer Komposition, in der ein zweistimmiger Satz auf drei und vier Stimmen erweitert wird. Als solches markiert der Name Perotin den ersten Höhepunkt in der Geschichte der europäischen Mehrstimmigkeit. Damit gelten diese Kompositionen von eigentlich unbekannten Meistern mit Namen Perotinus oder Leonin (auch Schule von Notre Dame genannt) in der abendländischen Musikgeschichte als früheste, gewissermassen avantgardistische Kompositionen mehrstimmiger, für den liturgischen Gebrauch konzipierter Gesänge.
Den Namen Perotin kennt man nur von einer mindestens 50 Jahre späteren Quelle (musikwissenschaftlich «Anonymus 4» genannt). Gemeinsame Aufführung, Notation und individuelles Komponieren fliessen hier noch ungetrennt ineinander über. Eine Biographie über Perotin ist im Hinblick auf die Frage der Werkgenese daher nicht von Bedeutung. Um so mehr ist der Blick also aufs Werk selbst zu richten.
Organum
Unter Organum versteht man eine liturgische Musik, die auf einer Choralmelodie in der Unterstimme basiert, aber durch Melismen und rhythmische Modi in den Oberstimmen erweitert wird.
Ein im Organum-Stil geschriebenes Stück wird fast vollständig von einem gleichmässigen Puls geprägt, der von den tanzenden Klangmustern der oberen Stimmen (eine oder mehrere - duplum, triplum, quadriplum) erzeugt wird.
Dieser aktiven Oberfläche werden lange, ausgehaltene Töne unterlegt, die sich nur selten verändern und dem über ihnen liegenden polyphonen Netz als Grundlage dienen. Diese langgehaltenen Töne sind genaugenommen die Anfangstöne einer Choralmelodie, die ursprünglich für einen Solisten bestimmt war, den sogenannten Tenor (tenor kommt von lateinisch tenere halten). Dabei geht der melodische Charakter des gregorianischen Gesangs im Wesentlichen verloren, erzeugt aber einen zu gotischen Kirchenräumen passenden, mystischen Gesamtklang. .
Typisch ist das lange Verweilen auf einer Silbe, wie stammelndes Verharren im 4-stimmig klingenden Mysterium.
Das wichtigste Merkmal der Musik aus der Zeit zwischen 1160 und 1250 ist die Notation. Erstmals in der abendländischen Musikgeschichte war es möglich, rhythmische Verläufe exakt in Noten festzuhalten.
Graduale in der Liturgie
Graduale bezeichnet den liturgischen Ort zwischen den einzelnen Lesungen im Wortgottesdienst der Messe. Seit der frühmittelalterlichen Form der römischen Messe wurden Psalmen bzw. Psalmverse als rituelle Antwort auf die biblischen Lesungen gesungen. So ist das «Viderunt omnes…» ein Ausschnitt aus Psalm 98 in der lateinischen Vulgata-Übersetzung und gehörte als Graduale zur Weihnachtsliturgie seit dem Mittelalter bis heute. Denn was Menschen rund um Weihnachten und der Feier der Geburt Jesu erleben, wird in der Liturgie als sichtbares Symbol für das transzendente Wirken Gottes für alle Völker interpretiert.
Hörbegleiter:
Eine Gruppe von Solisten legt den Modus und die konsonanten Intervalle fest.
Dann beginnt als 1. Teil ein 4-stimmiges Organum. Die jeweiligen Silben werden als langer Bordun jeweils gehalten:
Vi (1 Min)
de (½ Min)
runt (1 Min)
om (1 Min)
nes (10 Sek)
Viderunt omnes
Es sehen alle
2. Teil
Der Choral wird einstimmig gregorianisch gesungen.
fines terrae salutare Dei nostri:
Iubilate Deo omnis terra
Enden der Erde das Heilswirken unseres Gottes.
Jubelt Gott alle Lande!
3. Teil:
No (1 Min)
tum (½ Min)
fe (1 Min)
cit (½ Min)
Domin (½ Min)
us (10 Sek)
salu (½ Min)
tare (½ Min)
suum (½ Min)
Notum fecit Dominus salutare suum:
Bekannt macht Gott sein Heil:
4. Teil:
an(te) (½ Min)
con (10 Sek)
spe (10 Sek)
ctum (10 Sek)
gent (5 Sek)
ium (10 Sek)
reve (5 Sek)
lavit (10 Sek)
iustitiam (Choral)
ante conspectum gentium revelavit iustitiam suam.
vor dem Angesicht der Völker offenbart er seine Gerechtigkeit.
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