Wolfgang Rihm: TENEBRAE aus “Deus Passus“ (2000)

Wolfgang Rihm

geboren 13. März 1952 in Karlsruhe (Deutschland) 
gestorben 27. Juli 2024 in Ettlingen (Deutschland)

Uraufführung:

29. August 2000 in Stuttgart.
Wolfgang Rihms Werk "Deus Passus: Passions-Stücke nach Lukas" entstand im Rahmen des Projekts Passion 2000 anlässlich des 250. Geburtstages von Johann Sebastian Bach.
TENEBRAE ist das Schlussstück von "Deus Passus".

Text:
Paul Celan, Tenebrae aus: Sprachgitter, 1959

 

 

Celans Gedicht «Tenebrae» steht in Wolfgang Rihms «Deus passus» am Ende der Passionsgeschichte Jesu Christi und soll bewusst an den Holocaust erinnern. Text und Vertonung sollen beunruhigen und Ausschau halten nach einer neuen religiösen Interpretation unserer Zeit und deren Grausamkeiten. Auch geistliche Musik kann heute nicht mehr die gleiche sein wie ehemals, in je andern Zeiten und Denkhorizonten.

Celans Gedicht kehrt die normale religiöse Weltsicht um, indem er Gott gerade in den dunklen Zeiten (in den «Tenebrae») zu den Menschen beten lässt, und nicht den Menschen zu Gott. Das ist keine Abkehr vom Religiösen, denn ein Verhältnis der religiösen Nähe bleibt bestehen, treu der jüdisch-christlichen Tradition, die schon immer von einem verborgenen Adonaj, einem unverfügbaren und unaussprechlichen heiligen «Herrn».

Formal verteilt Wolfgang Rihm die Vertonung dieses Auf-den-Kopf-gestellten Gebets auf drei Stimmblöcke: auf ein SolistInnen-Quintett, auf einen vierstimmigen Chor und auf wenige Instrumente des Orchesters. Wichtig zu wissen ist, dass die Stimme Christi in der vorausgehenden Passionserzählung «Deus passus» von Wolfgang Rihm von den fünf Solostimmen gemeinsam gesungen wird. Das erinnert theologisch vielleicht an die fünf Wunden Christi. Es kann aber auch darauf hinweisen, dass Christus eigentlich Messias heisst. Messias wurde schon immer auch als Titel verstanden, der nicht bloss ein Individuum meint, sondern eine neue gemeinschaftliche Realität, wie diejenige, die Jesus von Nazareth unter dem Namen «Reich Gottes» erhoffte. Wie Christus in seiner Passion so leidet auch die kommende Welt jetzt noch immer in unermesslich leidvollen Geburtswehen.

Hier zu hören (ca. 9 Min.)!

Hörbegleiter:

Teil 1

Das Gebet wird von einer Vorsängerin (Alt-Solo) eröffnet, die mit einer kleinen Septime auf dem Wort «Nah» beginnt. Alt und Tenor-Stimmen des Chores antworten in einer melodiösen Wendung, die auf einer Terz endet. Dann setzt das Solistenquintett mit dem gemeinsamen a-moll-Gebetsruf «Herr» ein: Christus selbst – von einem dunklen Trommel-Tremolo gestützt – erhebt  betend die Stimme zu IHM. 

Die Worte «Nah und greibar» werden darauf vom ganzen Chor in sich ablösenden Moll-Akkorden und trauernden Clustern gesungen.

Dunkel in tiefer Lage singt der Chor gleich weiter von einem leidvollen Zustand des «Gegriffen»-seins, und wieder in a-moll ruft das Solistenquintet sein «Herr». Die Stimmen des Chores verkrallen sich zunehmend ineinander, bis sie zu einem gemeinsamen Klang-Leib werden. Diesem Klang sich einverleibend schliessen sich erneut die fünf Solostimmen mit ihrem «Herr» an.

Teil 2

In homophoner Ruh ruft der Chor zum Beten in neuer Ausrichtung. «Wir sind nah».

Zwei Altflöten nehmen die Einsatztöne des Chor-Soprans und -Alts vorweg. Unisono beginnen die Chorstimmen. Sekundvorhalte prägen die Dichte der Chorstimmen. Das Tremolo der grossen Trommel, Celli und Kontrabässe führen hin zur «Tränke».

Zuerst sind es die Bässe, gefolgt von den andern Chorstimmen, die klagend und schreiend auf ihrem Todesmarsch voranschreiten. 

Der Chor konstatiert dann leise: «Es war Blut». Ausdrucksstark tritt forte der Solo-Alt hervor, mit einem Sext-Sprung abwärts und einem Dezim-Sprung aufwärts sofort empört Aufmerksamkeit fordernd.

Ohne Orchesterbegleitung singt der Chor «Es glänzte», während der Alt aktualisierend die Präsenzform «glänzt» wählt.

Teil 3

Direkt anschliessend übernehmen die 3 Solo-Frauenstimmen den Celan-Text, begleitet von den Altflöten, während der Anruf «Herr» jetzt dem Chor übertragen ist, nicht mehr allein in a-moll, sondern harmonisch wechselnd mit jedem Einsatz.

Altflöten, Posaunenglissando, grosse Trommel und Streicher übernehmen den Sekundklang von den Stimmen in «leerer» Resonanz.

Mezzosopran und Alt-Solo setzen aufsteigend nacheinander über einem a-Cluster ein: «Wir haben getrunken.» Stammelnd mischen sich die Worte «Blut» und «Bild», der Chor fügt seinen «Herr»-Gebetsruf dazu.

Immer wieder bitten Mezzo- und Alt-Solo fordernd: «Bete!». Die Musik erstarrt in Worte.

Am Schluss kulminiert alles in einem accelerando aufsteigenden lauten Unisono-Ausbruch des Chores: «Wir sind nah.»

Dann schreit auch das Orchester fortissimo ein h in den Raum. Pianissimo und in ihm eignen Sekundklang antwortet das Solistenquintett mit «nah». Alles verklingt in Leere.



Nah sind wir, Herr, 









nahe und greifbar.



Gegriffen schon, Herr, 
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.





Bete, Herr, 
bete zu uns,
wir sind nah.

Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.


Zur Tränke gingen wir, Herr.



Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.




Es glänzte.




Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.




Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.








Bete, Herr.


Wir sind nah.

Für Musikinteressierte:

Website: Unbekannte Violinkonzerte