Johann Hermann Schein: Geistliches Concerto: Selig sind, die da geistlich arm sind (1626)

Johann Hermann Schein
geboren 20. Jan jul. / 30. Jan 1586 greg. in Grünhain, Deutschland
gestorben 19. Nov jul. / 29. Nov. 1630 greg. in Leipzig

 

Aus: "Opella Nova, Ander Theil
Geistlicher Concerten

mit 3. 4. 5. vnd 6. Stimmen zusampt dem General-Bass, Auff jetzo gebreuchliche Italiänische Invention Componirt / Von Johan-Herman Schein / Grünhain / Directore Music. Chori zu Leipzig. Mit Churfürstl. Sächs. Befreyung. In Verlegung des Autoris, und bey demselben auff der Schulen zu S. Thomas daselbst zu finden. M. DC. XXVI (Leipzig 1626)"

Besetzung: CCATB, mit Instrumenten: Cornetto, Traversa, Trombona I/II, Fagotto, Continuo.
In der Capella Streicher/Bläser abwechselnd.
Text: Matthäus 5,3-12, deutsch: Luther Bibel 1545

 

So zentral die sogenannten Seligpreisungen für das Denken und die Philosophie Jesu aus Nazareth waren, so wenig wurden sie von der Kirchenmusik und den Liturgien der abendländischen Kirchen rezipiert. Auch als Oratorium im Konzertsaal folgt nur César Francks «Les Béatitudes» diesem revolutionären Text, allerdings etwas gar romantisch harmonisiert. Dabei plädiert dieser authentisch überlieferte Text für eine Wende in der Lebensorientierung und Gestaltung menschlicher Gesellschaften. Nicht die Erfahrungen der kleptokratischen Reichen und konsumistischen Glückssuchern sind Erfahrungen, die Zukunft haben. Im Gegenteil müssten die Erfahrungen der Benachteiligten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gelangen, denn es sind diese Erfahrungen, die für die Gesellschaft und das Leben der Menschheit Zukunft haben werden.

Eine der seltenen Vertonungen der Seligpreisungen in der Musikgeschichte stammt vom frühbarocken Komponisten und Leipziger Thomaskantor Johann Hermann Schein (1586 – 1630), einem der Vorgänger von J.S. Bach in Leipzig. Sein umfangreiches Schaffen reicht von Liebesliedern (z.B. die Erstpublikation «Venus Kräntzlein…, fünfstimmig von 1609), Hochzeits- und Gesangbuchliedern, geistlichen Concerten bis zu Sterbeliedern. Dabei führte er den neuen konzertanten Stil, d.h. neue originelle farbige Instrumenten-kombinationen, in die Chormusik ein. Seine vokal-instrumentalen Concerti aus der Sammlung Opella Nova I+II, aus denen auch seine nach 1626 entstandene Vertonung der Seligpreisungen stammt, sind von der venezianischen Chormusik beeinflusst. Die Besetzung des Concertos «Selig sind…» besteht im Original aus 2 Sopranstimmen, dem Alt, Tenor und Bass, sowie einer Flöte, einem Cornetto, 3 Trombonen und dem Basso continuo. Entsprechend der Textstruktur vertont Schein den ersten Teil rein vokal («Selig sind…»), und lässt die ganze Capella ritornellartig in den zweiten Teil des Satzes («denn sie…») einfallen. Vertont hat Johann Hermann Schein die Seligpreisungen nach der deutschen Übersetzung von Martin Luther.

 

Hier zu hören ( 7 1/2 Min.)

 

Hörbegleitung:

1
Ganz schlicht und «arm» beginnt dieses geistliche Concert: Ein Solo-Sopran singt in der leeren Quinte das «Selig sind…»-Motiv. Sofort setzt kanonisch versetzt ein zweiter Solo-Sopran ein. Gemeinsam verzieren sie die Worte «geistlich arm».
Der fünfstimmige Chor und die Begleitinstrumente antworten mit vollklingendem Jubel und bekräftigen die Verheissung einer neuen Zukunft, und dies gleich zweimal.


Jetzt übernehmen Alt-Solo und Tenor-Solo das «Selig sind…»-Motiv in wahrnehmbar dunklerer Färbung, und die Betonung liegt nun auf «Leid tragen».
Chor und Instrumente antworten in gedämpfter Stimmung mit der Aussicht auf kommenden Trost.

3
Dreistimmig beginnen Alt, Tenor und Bass die dritte Seligpreisung mit dem «Selig sind…», leicht anders kontrapunktiert, um sich der neuen Haltung der Sanftmut anzugleichen.
Dennoch jubeln Chor und Instrumente im Blick auf die irdische Zukunft: sie werden das Erdreich besitzen.

4
Die folgende, inhaltlich zentrale Seligpreisung singen nur die drei Frauenstimmen allein und wandeln das «Selig sind»-Motiv zweimal ab, um Hunger und Durst nach Gerechtigkeit speziell hervorzuheben.
Schlicht und überzeugt antwortet der instrumental begleitete Chor, getragen von der Aussicht auf ein kommendes Satt-Werden. 

5
In neu einsetzender Tonart und Harmonie beginnt der Solotenor, gefolgt von Alt und zweitem Sopran mit einem aufsteigend bittendem neuen «Selig sind»-Motiv.
Chor und Instrumente versprechen Barmherzigkeit, wobei das Wort «erlangen» mit einer Verzierung ausdrücklich bekräftigt wird.


Von einem reichen Basso Continuo begleitet bemühen sich nun Bass- und Tenor-Solo um eine Existenz reinen Herzens, was – wie die Kompositon hören lässt – nicht so leicht zu erreichen scheint.
Die Antwort darauf – von Chor und seinen Instrumenten – klingt zuversichtlich, auf jeden Fall knapp und überzeugt.

7
Wie ganz zu Beginn sind jetzt wieder die zwei Solo-Soprane an der Reihe und preisen mit einer aufjubelnden Variante des "Selig-sind..." die Friedfertigen.
Ihnen stimmen jubelnd auch Chor und Begleitinstrumente zu.


Zu den beiden Frauenstimmen tritt in der folgenden Seligpreisung der Solo-Bass hinzu. Das "Selig sind..." wird nun auffällig oftmals wiederholt, denn es geht darum, dass die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten in ihrer Not gestärkt werden.
Auch die Aussicht auf eine gerechtere Welt, die Chor und Instrumente ganz dringend verheissen, soll den aktuellen Einsatz für Gerechtigkeit jetzt ermutigen.

9
Zur Ermutigung treten nun alle Chorstimmen – nacheinander einsetzend und kanonisch miteinander verbunden – gemeinsam auf und verstärkt von den begleitenden Instrumenten auf. Die Verfolgten werden vielmals und direkt angesprochen: Selig seid ihr! Die Chorstimmen wissen, was allerlei üble Gerüchte und Lügen (fake news!) anstellen können. All dies gilt es auszuhalten.
Alle stimmen am Schluss fünfstimmig mit ein, um diejenigen, die sich jetzt an Gerechtigkeit und den glücklich machenden Werten orientieren, mit frühbarocker Klangpracht zu erfreuen.


Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.








Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.





Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.






Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.







Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.






Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.







Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.





Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr.








Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, so sie daran lügen.






Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel wohl belohnt werden.

Hinweis für Musikinteressierte:

Website: Unbekannte Violinkonzerte